Vorschau GP USA 2012

Gefahren wird nicht in Austin, sondern etwas

ausserhalb auf einer Rennstrecke

Denkt man als politisch gemässigter Mitteleuropäer an Texas, dann fallen einem spontan das Attentat auf den als liberal geltenden US-Präsidenten John F. Kennedy in Dallas 1963 ein, die hierzulande sehr unpopuläre Präsidentschaft von George W. Bush und, dem Linkspopulisten/Dokumentarfilmer Michael Moore sei Dank, etwa 1.000 Morde mit Schusswaffe pro Jahr. Das bedeutet in nüchterner Statistik, dass vier von 100.000 Texanern damit rechnen müssen, erschossen zu werden.

Denjenigen, die nicht erschossen werden, sondern selbst erschiessen, droht im schlimmsten Fall die Todesstrafe. Mit 490 Hinrichtungen seit 1976 ließen die Justizbehörden in Texas laut Wikipedia mehr Todesurteile vollstrecken als die nächsten sechs US-Bundesstaaten zusammengenommen. Derzeit warten knapp 300 verurteilte Kandidaten auf die Todesstrafe - der farbige Trucker Raymond Riles, der im Dezember 1974 einen Gebrauchtwagenhändler ermordet haben soll, schon seit 4. Februar 1976.

Die zeitgeschichtliche Wahrnehmung von Texas als Hochburg der Konservativen hat ihre Wurzeln aber, unabhängig von den aktuellen gesellschaftspolitischen Werten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals entstand durch verwilderte Rinderherden, die zusammengetrieben werden mussten, der Beruf des Cowboys. Diese Viehhirten gab es vielerorts in Amerika, doch während die argentinischen Gauchos heute als singende und dichtende Romantiker verklärt werden, stellt man sich unter einem echten Texas-Cowboy immer noch einen Lasso schwingenden und wild durch die Gegend ballernden Macho vor.

Vom "Marlboro-Man" zu "Brokeback Mountain"

Aber selbst Texas löst sich nach und nach von solchen Klischees. Spielte der Tabakkonzern Philip Morris jahrzehntelang mit dem in der Werbeindustrie berühmt gewordenen "Marlboro-Man", der mit Hut, Stiefeln, Pferd und Zigarette zu einem Symbol für Freiheit stilisiert wurde, so ließ man den Cowboys bei der mit drei Oscars ausgezeichneten Hollywood-Darstellung "Brokeback Mountain" im Jahr 2005 nur noch traditionelle Äußerlichkeiten. Sonst räumte die Story von zwei schwulen Viehhirten mit den meisten Klischees auf, mit denen sich das konservative Texas noch heute gerne brüstet.

Ganz Texas ist also von den Konservativen besetzt. Ganz Texas? Nein! Ein von unbeugsamen Liberalen bevölkertes Dorf hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Die Rede ist von Austin, der mit rund 800.000 Einwohnern viertgrössten Stadt im Staat (hinter Houston, San Antonio und Dallas). Austin ist gleichzeitig Regierungssitz, gilt aber als liberal, alternativ, weltoffen und grün. Der populäre Slogan "Keep Austin Weird" ("Halt Austin eigenartig") beschreibt die Mentalität der fast studentisch anmutenden Metropole (1,7 Millionen Einwohner im Großraum) überaus treffend. Der Veranstaltungskalender der Stadt Austin ist so abwechslungsreich wie der kaum einer anderen nordamerikanischen City. Besonders populär sind Musikevents wie das Austin-City-Limits-Music-Festival, zu dem an drei Tagen jeweils mehr als 70.000 Zuschauer den Zilker Park in ein modernes Woodstock verwandeln. Alleine diesen Oktober traten im Rahmen des Festivals fast 100 Acts auf, darunter Weltstars wie Neil Young und die Red Hot Chili Peppers oder Alternative-Größen wie die Black Keys und Weezer. Nicht umsonst vermarktet sich Austin im Tourismus als "Livemusik-Hauptstadt der Welt".

Eine hippe Grün-Oase mitten in Texas

In dieser Atmosphäre sieht man dann auch davon ab, dass selbst eine lesbische Country-Ikone wie Brandi Carlile auf der Bühne nicht liberale Sprüche klopft, sondern mit Cowboyhut und kniehohen Wildlederstiefeln über die Bühne stampft, wenn sie ihren Hit "The Story" trällert. Austin ist eben hip, aber Austin ist immer noch Texas - eine ungewöhnliche Mischung, die für Besucher der Stadt einen pulsierenden und einzigartigen Mix ergibt, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Bei der gerade abgehaltenen Präsidentschaftswahl waren in Texas 38 Wahlmänner zu holen - nur in Kalifornien (55) gab es mehr. Und natürlich entschied der republikanische Kandidat Mitt Romney Texas mit 57:41 Prozent der Stimmen gegen Barack Obama für sich. Im County Austin gaben die Republikaner sogar mit fast 80 Prozent den Ton an, trotzdem hat die Formel 1 in der Stadt viele Gegner. Benzinverbrennende PS-Monster passen nicht zu einer Stadt, in der zum Beispiel die größte urbane Fledermaus-Population der Welt tagtäglich für ein atemberaubendes Naturschauspiel sorgt, bei dem der Himmel über der Kongressbrücke verdunkelt wird.

Verstaute Strassen, lärmende Hubschrauber und ein in den Augen vieler US-Amerikaner europäisches Autorennen sind nicht unbedingt das, was sich die Kritiker des Formel-1-Rennens für ihre Stadt vorstellen, um sich vom Image texanischer Ölbohrungen zu lösen und als grüne Oase wahrgenommen zu werden. Befürworter hingegen verweisen auf die Umwegrentabilität des Events, die 220 Millionen US-Dollar (umgerechnet mehr als 170 Millionen Euro) in die texanische Wirtschaft spülen soll.

Rechtsstreit im Vorfeld der Premiere

Die Strecke selbst soll 400 Millionen Dollar gekostet haben, finanziert weitgehend von privaten Investoren wie Bobby Epstein und Red McCombs, dem früheren Eigentümer der San Antonio Spurs. Initiator des Projekts, die Formel 1 nach Austin zu holen, war aber Tavo Hellmund, Sohn des früheren Veranstalters des Grand Prix von Mexiko, selbst gescheiterter Rennfahrer, der es immerhin bis in die Britische Formel 3 geschafft hat, und seit seiner Kindheit mit Bernie Ecclestone befreundet. Hellmund hatte die Vision, Epstein und McCombs hatten das Geld. Das endete unweigerlich in einem Rechtsstreit, sodass Hellmund mit dem Circuit of The Americas (CoTA) heute nichts mehr zu tun hat.

Der Name der Strecke ist keineswegs zufällig gewählt. Der Begriff "Amerika" wird gerade in den USA häufig als Bezeichnung für die Vereinigten Staaten verschlampt, während "die Amerikas" in der Wahrnehmung für Nord-, Mittel- und Südamerika stehen, also für den gesamten Kontinent. Hellmunds Vision war einst, dass Zuschauer aus Texas ebenso kommen sollen wie aus den angrenzenden Bundesstaaten, von der West- und Ostküste - und aus dem relativ nahe gelegenen Mexiko. Dank Sergio Perez erwarten die Veranstalter bei der Premiere rund 30.000 Fans aus dem Nachbarstaat.

"Texas ist ein grossartiger Ort, der uns liegen sollte", sagt Bernie Ecclestone und vergisst dabei auf Dallas, das bisher einzige Gastspiel der Königsklasse in Texas. "Texas", sagt McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh, "ist eigentlich nicht die natürliche Heimat der Formel 1 - das wären eher die West- beziehungsweise Ostküste." 1984 hatten die Verantwortlichen "vergessen", dass der texanische Sommer äußerst ungeeignet für ein Autorennen ist - bei 70 Grad Celsius Asphalttemperatur machte nicht nur Fitnessmuffel Nigel Mansell schlapp, sondern auch der Asphalt auf dem Stadtkurs. Aber: "Es hätte funktionieren können. Dallas war nett", verweigert Ecclestone die Realität. Sieger damals übrigens: Keke Rosberg - mit einem 2.000 Dollar teuren Spezial-Kühlhelm behielt der Finne kühlen Kopf.

US-Grand-Prix: Tops und Flops

Überhaupt ist die Geschichte des US-Grand-Prix eine ambivalente. Neben Klassikern wie Watkins Glen (1961 bis 1980) und Long Beach (1976 bis 1983) blieben teilweise kuriose (Parkplatz des Caesars-Palace-Hotels in Las Vegas) oder auch todlangweilige (Phoenix) Strecken in Erinnerung. Zuletzt gastierte die Formel 1 vor Austin von 2000 bis 2007 in Indianapolis, doch mit dem Reifenfiasko von 2005, als nur sechs Autos am Rennen teilnahmen, verspielte die Königsklasse im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jede Menge Kredit.

"Damit haben wir keine Werbung für den Sport gemacht. Jetzt müssen wir bessere Arbeit leisten", weiss Mercedes-Sportchef Norbert Haug. "Wir brauchen einen amerikanischen Fahrer und ein amerikanisches Team. Das muss vielleicht aufgebaut werden. Aber die Perspektiven sind da. Und es gibt auch die Fans, die sich auskennen. Vielleicht sind das keine Abermillionen und es sind auch die TV-Quoten nicht so gut wie in Europa, aber eine Weltmeisterschaft muss in den USA sein."

Doch Haugs Wunsch nach einem amerikanischen Team scheint mit dem Platzen des US-F1-Projekts von Ken Anderson und Peter Windsor in weite Ferne gerückt zu sein, und ein neuer Mario Andretti ist ebenfalls weit und breit nicht in Sicht. Also kämpft die Formel 1 in den USA mit stumpfen Waffen gegen die Platzhirsche IndyCar und vor allem NASCAR. "Wir sind ein ganz anderes Produkt als NASCAR. Ich glaube, dass wir von NASCAR viel lernen können", weiss Whitmarsh.

Dell, Facebook und Co. in Austin ansässig

"Amerika", unterstreicht er, "ist die Heimat des Automobils, ein natürlicher Markt, auf dem wir bisher versagt haben. Weil wir nicht erkannt haben, dass wir Amerika mehr brauchen, als Amerika uns braucht. Wenn man die Boxengasse entlangschlendert und eine Liste der 50 größten Investoren in der Formel 1 zusammenstellt, und diese 50 Investoren dann fragen, was weltweit ihre drei größten Märkte sind, dann werden 98 Prozent die USA nennen." Direkt in Austin zählen Weltkonzerne wie Dell, Facebook, der auch in der Formel 1 engagierte Halbleiter-Hersteller Freescale, IBM, Hewlett-Packard und Apple zu den grössten Arbeitgebern. Wegen dieser Anhäufung an Technologiefirmen wird Austin in Anspielung auf das Silicon Valley in Kalifornien und die hügelige Landschaft oftmals "Silicon Hills" genannt. Apropos Arbeitsplätze: Am Bau des CoTA, der 2011 kurzzeitig stillstand, wirkten 1.700 Arbeiter mit. 300 permanente Angestellte finden vor den Toren von Austin an der Rennstrecke Beschäftigung, dazu kommen weitere 3.000 temporäre Helfer am Formel-1-Wochenende.

Hermann Tilke wieder Architekt

Der 5,516 Kilometer lange Kurs in Austin ist als erste speziell für die Formel 1 gebaute Rennstrecke in den USA auf einem Areal von rund vier Quadratkilometern errichtet worden. Seine 20 Kurven führen über 31 Höhenmeter mit einer maximalen Neigung von 14,6 Prozent. Aber: "Für Start-Ziel haben wir uns die flachste Stelle gesucht und die Gerade sehr kurz gestaltet", erklärt Streckenarchitekt Hermann Tilke. "Danach folgt ein sehr schnelles Geschlängel von sieben aufeinanderfolgenden Kurven, in denen es zudem hoch und runter geht. Da haben wir jeden Hügel ausgenutzt", sagt der Aachener und verrät, worauf er besonderen Wert gelegt hat: "Die Kurven sollten nicht ganz voll gehen, sondern nur mit einem leichten Lupfer." Und auch harte Bremszonen dürfen nicht fehlen, denn: "Die Fans leben vom Geschwindigkeitsunterschied. Sie wollen und müssen die Kräfte spüren."

Das CoTA-Konzept ist jenem von Magny-Cours in Frankreich nicht ganz unähnlich: von verschiedenen anderen Strecken die besten Merkmale zusammenwürfeln und etwas Eigenes entstehen lassen. So gibt es eine Passage, die den S-Kurven in Suzuka oder Becketts/Maggotts/Chapel in Silverstone recht nahe kommt, ein anderer Teil erinnert an das Motodrom in Hockenheim und im letzten Sektor befindet sich eine in die andere Richtung führende Kopie der anspruchsvollen Kurve 8 von Istanbul, mit vier Scheitelpunkten, aber keiner langen Gerade, sondern einer engen Ecke am Ausgang. Das Highlight ist für viele aber gleich die erste Kurve nach Start und Ziel.

Eine Runde mit Jerome D'Ambrosio:

"Los geht's mit der ersten Kurve. Zum Anbremsen sehr interessant, ein sehr später Bremspunkt. Sie führt bergauf nach rechts. Wenn du aus der letzten Kurve herausbeschleunigst, kommt es dir so vor, als würde sich eine Wand vor dir aufbauen. Das ist ein ziemlich beeindruckendes Bild. Danach ist auch der Ausgang blind. Erneut sehr interessant - und da kann man Zeit gewinnen. Danach folgt der schnellste Abschnitt der Strecke, beginnend mit einer Rechtskurve, die mit dem Formel-1-Auto voll geht. Die darauffolgenden S-Kurven sind der Becketts-Passage in Silverstone ziemlich ähnlich. Das sollte wirklich Spaß machen - zuerst Vollgas und dann runterschalten, die letzte Kurve wahrscheinlich im dritten Gang. Die leichte Neigung der Kurven macht es besonders interessant zu fahren, besonders technisch. Weiter geht's nach einer langsamen Linkskurve auf die längste Gerade. Das ist eindeutig die beste Stelle zum Überholen. Danach kommt die technisch anspruchsvollste Sektion der Strecke: eine nach links führende Haarnadel, die am Ausgang aufmacht und in eine zweite Haarnadel führt, wieder sehr technisch, weil man die richtige Linie treffen muss. Danach geht es in eine langgezogene Rechtskurve, sehr schnell, und am Ende ein langsamer Linksknick. Die letzte Kurve ist nichts Besonderes. Kann sein, dass das auch eine Stelle zum Überholen ist, aber andererseits kommt danach die lange Start- und Zielgerade. Also vielleicht besser dahinter warten, sich richtig positionieren und es beim Anbremsen der ersten Kurve versuchen."

205 km/h Schnitt im Qualifying

In Vorab-Simulationen, die jedoch immer mit Vorsicht zu genießen sind, haben Ingenieure von Motorenhersteller Renault eine zu erwartende Durchschnittsgeschwindigkeit von 205 (Qualifying) beziehungsweise 196 km/h (Rennen) errechnet. Acht der 20 Kurven werden demnach im dritten Gang oder noch niedriger gefahren. Sollten sich diese Prognosen bewahrheiten, würde sich der CoTA in einem ähnlichen Bereich bewegen wie der Stadtkurs in Valencia. Ganz ähnlich wie in Abu Dhabi befindet sich die längste Gerade nicht bei Start und Ziel, sondern im zweiten Sektor. Die Gerade ist 1.016 Meter lang, woraus sich ein Volllastanteil von knapp über 13 Sekunden ergibt. Das wiederum bedeutet eine Höchstgeschwindigkeit von voraussichtlich 310 bis 320 km/h sowie zweieinhalb Sekunden am Drehzahlbegrenzer, bevor für die nach links führende Haarnadelkurve abgebremst werden muss. Die erwartete Rundenzeit liegt bei 1:39 Minuten.

Das ist verhältnismässig langsam, was nicht zuletzt an drei Haarnadeln liegt, die die Strecke in ein Dreieck einfassen (Kurven 1, 11 und 12). Dort fällt die Motorendrehzahl auf unter 10.000 Touren und die Geschwindigkeit auf rund 80 km/h. Alle drei Haarnadeln folgen auf eine lange Volllastpassage, was bedeutet, dass Motorbremse und Bremsstabilität entscheidende Faktoren sind, ebenso wie der Ausgang auf die Geraden danach. Dieses anspruchsvolle Spiel aus Beschleunigung und Verzögerung führt dazu, dass Austin neben Abu Dhabi eine der verbrauchsintensivsten Strecken des Rennkalenders ist. Die niedrigeren Temperaturen als in der arabischen Wüste machen zwar die höhere Lage wett, doch der kurvenreiche erste und dritte Sektor, wo die Fahrer ständig zwischen Gas und Bremse wechseln, erhöhen den Benzinverbrauch. Dadurch ist die Startbenzinmenge eine der höchsten der gesamten Saison, gemeinsam mit Abu Dhabi und Melbourne.

16.11.2012