Ein Stopp, zwei Stopps beim GP Kanada ?

Lewis Hamilton und seine Kollegen stellen sich auf

ein bis zwei Stopps ein

Nichts ist unmöglich. So scheint es zumindest, denn nach dem Qualifying zum Grossen Preis von Kanada geistern die unterschiedlichsten Strategie-Ansätze durch das Fahrerlager der Formel 1. Ist eine Einstopp-Taktik überhaupt möglich oder sind zwei Reifenwechsel vielleicht doch etwas schneller? Oder kommt es auf dem Circuit Gilles Villeneuve gar wieder zu einem waschechten Reifenchaos?

Wahrscheinlich nicht, obwohl mancher Beteiligter nicht überrascht wäre, wenn die Fahrer "drei- bis viermal" bei ihrer Boxencrew vorstellig werden. Damit rechnet zumindest Pirelli nicht. Paul Hembery glaubt vielmehr an einen recht klaren Fahrplan: "Von der Abnutzung her dürfte eine Einstopp-Strategie möglich sein. Derzeit sieht es aber danach aus, dass zwei Reifenwechsel die bessere Taktik sind." Auch, weil die Reifen speziell am Beginn eines Grands Prix etwas mehr strapaziert werden als später im Rennen. "Wir wissen ja, wie beim Start gekämpft wird. Und gerade dann, wenn noch dazu viel Sprit im Tank ist, bauen die Reifen ziemlich rasch ab. Das könnte zu einem zweiten Stopp führen", erklärt der Motorsport-Direktor von Pirelli. Darauf scheint sich der Grossteil des Starterfeldes einzustellen.

Reicht ein Reifenwechsel aus?

Zumal die Einstopp-Strategie am Circuit Gilles Villeneuve grundsätzlich als möglich, aber auch als riskant eingestuft wird. "Es hängt ganz von den Temperaturen ab", meint Pastor Maldonado (Williams) und merkt an: "Wenn es warm wird, sollte es möglich sein. Das müssen wir jedoch während des Rennens analysieren." Witali Petrow (Caterham) winkt allerdings schon vor dem Rennstart ab. "Ein Stopp wird unmöglich sein", meint der Russe und macht seine Einschätzung ebenfalls an den äusseren Bedingungen fest. "Wäre das Wetter am Sonntag wie am Freitag, dann wäre ein Stopp gut möglich. Für mich ist eine Ein-Stopp-Strategie aber unmöglich", sagt Petrow. Lewis Hamilton (McLaren) ist dagegen offen für alles - von einem Reifenwechsel bis hin zu drei Boxenstopps. "Es ist sicherlich möglich, dass wir ein paar mehr Reifenwechsel sehen werden als beim jüngsten Rennen", erklärt der Zweitplatzierte in der Startaufstellung. "Vielleicht läuft es auf eine Zweistopp- oder Dreistopp-Strategie hinaus. Wir haben am Freitag allerdings auch viele Longruns gesehen. Das führt möglicherweise zu einer Einstopp-Strategie." Und eine solche ist in Kanada generell verlockend.

Frische Reifen sind dieses Mal kein Muss

Die Rennen auf dem Circuit Gilles Villeneuve sind schließlich dafür bekannt, recht turbulent zu sein. "Hier hast du aber auch immer die Wahrscheinlichkeit auf eine Safety-Car-Phase", sagt Hamilton. "Damit im Hinterkopf könnten die Leute vielleicht zu einer Einstopp- oder Zweistopp-Strategie tendieren. Wer weiß? Es kommt halt auf die Temperaturen und auf die Reifenhaltbarkeit an." Frische Reifen scheinen dieses Mal offenbar nicht das Zünglein an der Waage zu sein. Das glaubt zumindest Mercedes-Teamchef Ross Brawn: "Es bringt hier nicht viel, neue Reifen für das Rennen aufzusparen. Das ist kein enormer Faktor", erklärt der Brite. Diese These wird auch dadurch gestützt, dass die Piloten im Qualifying nicht damit geizten, ihre frischen Pneus zum Einsatz zu bringen. Manchmal war diese Taktik aber auch aus der Not geboren, wie im Fall von Jenson Button (McLaren). Der Ex-Champion stand in Q3 plötzlich ohne neue Reifen da, weil er sämtliche frischen Reifensätze schon zuvor "verbraten" hatte. Vielleicht macht Button - er siegte schon 2011 auf spektakuläre Art und Weise in Kanada - aber aus der Not eine Tugend und tritt mit einer ungewöhnlichen Strategie an.

Wird Button zum Überraschungsmann?

Brawn hat seinen ehemaligen Piloten jedenfalls auf der Rechnung: "Jenson steht mit der härteren Mischung auf Position zehn. Gut möglich, dass er lange draussen bleiben und dann mit einem Stopp durchfahren kann", meint der Mercedes-Teamchef. Nur ein Stopp sei bei grosser Hitze aber "an der Grenze" des Machbaren, fügt er hinzu. Ein gewisses Risiko fahre bei dieser Taktik sicherlich mit. "Wenn du eine Einstopp-Strategie planst, dann aber umstellen musst, kann das eine Menge Leistung kosten. Unmöglich ist es aber nicht", meint Brawn. Button selbst zeigt sich ob seiner Chancen recht zurückhaltend: "Wir gehen auf der härteren Reifenmischung an den Start. Ich weiss nicht, ob das eine gute oder schlechte Sache ist. So ist es aber nun einmal. Am Sonntag werden wir es erfahren. Wir machen halt etwas anderes. Das muss man aber auch tun, wenn man von weiter hinten kommt. Trotzdem können wir ein gutes Rennen haben", sagt der McLaren-Pilot. Ein spezieller Umstand der kanadischen Rennstrecke in Montreal könnte Button und allen weiteren potenziellen "Einstoppern" auf jeden Fall in die Karten spielen: Die Boxengasse zählt zu den kürzesten im Kalender der Formel 1.

Das Reifen-Arbeitsfenster ist sehr schmal

Darauf weist Mercedes-Teamchef Brawn hin: "Der Boxenstopp dauert hier nicht sehr lange. Es ist der kürzeste des Jahres, glaube ich. Daher ist der Unterschied zwischen einem und zwei Stopps nicht enorm. Es geht darum, den Verkehr zu managen und sicherzustellen, dass man an der richtigen Position wieder auf die Rennstrecke zurückkommt. Das sind die Dinge, die fast wichtiger sind."

Am allerwichtigsten ist aber vermutlich einmal mehr, die Pirelli-Pneus im Grand Prix nicht über Gebühr zu strapazieren. McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh bringt es nochmals auf den Punkt: "Das Arbeitsfenster ist ziemlich schmal und diese Reifen sind nur schwierig auf Temperatur zu bringen." Und mit etwas Pech könne man das "Fenster" glatt verfehlen und über das Limit hinausschiessen. "Für viele Teams - und da schliesse ich uns mit ein - stellt dies eine Herausforderung dar. Es gibt noch einiges, was wir lernen können. Am Sonntag könnten die Bedingungen aber ganz andere sein. Das würde vielleicht alles durcheinander bringen", meint Whitmarsh. "Und hier in der Boxengasse gibt es Leute, die sind manchmal schnell. Sie wissen aber vielleicht nicht genau, weshalb das so ist ..."

Pirelli ist begeistert


Gerade mal 1,044 Sekunden trennten Sebastian Vettel (Red Bull) im Kanada-Qualifying von Pastor Maldonado (Williams). Das Besondere daran: Vettel hatte die Q2-Bestzeit markiert, Maldonado schied als 17. vorzeitig aus - und hatte seine beste Runde gar nicht über die Linie gebracht. Diese Zahlen dokumentieren aber, wie eng es in Montreal zuging. Paul Hembery nahm es freudig zur Kenntnis.

Der Motorsport-Direktor von Pirelli zeigt sich zufrieden mit der Konkurrenzdichte im Starterfeld und ist regelrecht begeistert vom Zeittraining auf dem Circuit Gilles Villeneuve: "Es war unvorhersehbar, wer letztendlich auf die Pole-Position fahren würde. Die Abstände waren einfach so gering, speziell in Q2", meint der Brite. Deshalb sei im Zeittraining von Anfang an sehr viel Spannung geboten gewesen. "Schon ein kleiner Fehler reicht aus und du kriegst die Quittung, indem du gleich mehrere Positionen verlierst. Und manche Teams mussten ja sogar schon in Q1 mit der superweichen Mischung fahren", erklärt Hembery. Zum Beispiel McLaren, die im Falle von Jenson Button später den Preis für dieses Vorgehen zahlten: Button fehlte in Q3 ein frischer Reifensatz und er musste spontan umdisponieren.

Mit der härteren Mischung stand der McLaren-Pilot im Vergleich zur Top-10-Konkurrenz auf einem verlorenen Posten. "Der Unterschied zwischen den beiden Mischungen beträgt zwischen 0,4 und 0,5 Sekunden", meint Hembery. Dergleichen habe man aber erwartet, zumal Montreal zu den kürzeren Strecken im Formel-1-Kalender zähle. Auch deshalb war die Qualifikation so ungeheuer umkämpft.

Und, weil die Reifen den Teams nach wie vor Probleme bereiten. In Kanada sind es vor allem die steigenden Temperaturen, die für zusätzliche Schwierigkeiten sorgen. "Die Rennställe scheinen da aber auf einem guten Weg zu sein", sagt Hembery, der das Treiben in der Boxengasse genau verfolgt. Trotzdem ist vor dem Rennsonntag noch nicht klar, was die beste Strategie sein wird.

Theoretisch wäre eine Einstopp-Taktik denkbar, weil die superweiche Mischung "30 oder mehr Runden" hergibt, wie Hembery erklärt. "Rein von der Reifenabnutzung wäre eine solche Strategie möglich", meint der Brite. "Im Augenblick sieht es aber danach aus, dass zwei Reifenwechsel die bessere Taktik sind. Man kann sich aber auch gut vorstellen, wie beim Start gekämpft wird. Gerade zu Beginn des Rennens, wenn noch dazu viel Sprit im Tank ist, bauen die Reifen ziemlich rasch ab. Das könnte zu einem zweiten Stopp führen", sagt der Motorsport-Direktor von Pirelli. Insgesamt könne man 2012 aber beobachten, dass weniger Reifenwechsel durchgeführt werden als noch 2011. Dies liege einerseits am verbesserten Reifenverständnis der beteiligten Rennställe.

"Andererseits haben wir die Charakteristiken der Pneus ein bisschen verändert. Das ist sicher ebenfalls eine grosse Hilfe", meint Hembery und fügt hinzu: "Deshalb werden 2012 generell weniger Boxenstopps absolviert. Es ist halt so, dass schon kleine Änderungen eine grosse Auswirkung haben können. Fünf Runden hin oder her machen manchmal den Unterschied aus", erklärt der Brite.

10.6.2012