Reifenverschleiss ist die grosse Unbekannte

Zwei oder drei Boxenstopps in Melbourne?

Pirelli tut sich vor dem Saisonstart noch schwer damit, eine genaue Prognose zum Rennverlauf abzugeben

Als Pirelli im vergangenen Jahr in die Formel 1 zurückkehrte, wussten die Fahrer und ihre Teams nur bedingt, was sie beim Saisonauftakt erwarten würde. 2012 verfügen sämtliche Beteiligte zwar über die Erfahrung eines kompletten Rennjahres, doch die Pirelli-Reifen sind auch dieses Mal wieder die grosse Unbekannte: Die Pneus wurden im Winter zum Teil modifiziert, sodass wieder einiges neu sein wird.

Das zentrale Thema dabei ist: Wie rasch verschleissen die Reifen und wie lange halten die einzelnen Mischungen. Dies gilt es beim ersten Formel-1-Rennen des Jahres, dem Großen Preis von Australien in Melbourne, herauszufinden. "Noch wissen wir nämlich nicht, wo die einzelnen Autos stehen und wie aggressiv sie die Reifen rannehmen werden", sagt Pirelli-Motorsport-Direktor Paul Hembery. Bei den Testfahrten vor Saisonbeginn habe man sich zwar ein generelles Bild von der Lage machen können, doch im Rennbetrieb gestaltet sich die Situation meist ein bisschen anders. Hinzu kommt in Australien erschwerend: Der Freitag war verregnet und die gesammelten Daten sind daher nur bedingt aussagekräftig. "Es ist für uns noch immer ein großes Fragezeichen", gesteht Hembery.

Lösung der Reifenfrage erst in Malaysia?

"Man darf ja nicht vergessen: Selbst wenn die Teams am Freitag zeitgleich auf den unterschiedlichen Reifen fuhren, jeder hat ja ein bestimmtes Programm und auch die Spritladungen sind anders. Es wäre gefährlich, schon jetzt Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Bisher haben wir deshalb nur Vermutungen", meint der Brite. Generell wird es 2012 wieder "eine gewisse Abstufung" geben. "Der weiche Reifen weist einen grösseren Verschleiss auf als die mittlere Mischung, die mittlere einen grösseren als die harte", erklärt Hembery. Genaue Rückschlüsse dazu soll aber erst Sepang liefern. "Malaysia dürfte ein guter Prüfstand werden, denn es ist eine sehr raue Strecke. Ausserdem ist es dort sehr heiss. Das dürfte uns ein klares Bild davon verschaffen, wo die einzelnen Reifentypen stehen." Für das Rennen in Melbourne kommen diese Erkenntnisse natürlich zu spät, doch bestimmte Tendenzen sind natürlich schon jetzt ersichtlich. Ausgehend von den bisher gesammelten Daten laufe es in Melbourne vermutlich auf zwei bis drei Boxenstopps je Fahrzeug hinaus, sagt Hembery. "Das hängt allerdings auch davon ab, ob es Safety-Car-Phasen und dergleichen gibt", fügt er hinzu.

Neue Eigenschaften für die Pirelli-Reifen

Zudem eröffne die Streckenposition den Fahrern und ihren Teams eine weitere Dimension in der Strategieplanung: "Liegst du weit vorne, kannst du es dir vielleicht leisten, einen weiteren Stopp einzulegen", sagt Hembery. "Die Mehrheit der Teams wird aber bestimmt zwei Reifenwechsel anstreben. Der Albert Park ist da beinahe eine normale Strecke und nicht wie ein Stadtkurs." Schon jetzt meint der Pirelli-Motorsport-Direktor eine wichtige Eigenschaft seiner Reifen erkannt zu haben. "Die mittlere Mischung scheint bei diesen kühleren Bedingungen besser zu funktionieren als im vergangenen Jahr", erklärt Hembery. Ganz allgemein wollte man zur Saison 2012 versuchen, das Aufwärmen der Pneus zu verbessern. Auch diese Aufgabe scheint Pirelli gemeistert zu haben. Aber: "Noch haben wir keine fundierten Informationen über den Unterschied zwischen den weichen und den mittleren Pneus", sagt Hembery. "Alle hoffen darauf, die entsprechenden Daten am Samstag zu sammeln. Sollte das nicht gelingen, dürfte uns am Sonntag ein sehr interessantes erstes Rennen bevorstehen." Sehr wahrscheinlich auf einem trockenen Albert Park Circuit, wie Hembery hinzufügt.

Hembery hofft auf eine spannende Saison

Spätestens dann erhofft sich der Brite Klarheit über die Reifenleistung 2012. "Die Reifen verschleissen. Ob genug oder nicht, das weiss ich nicht. Wenn die Kommentare zu positiv ausfallen, wird mich Bernie (Ecclestone) schon anrufen und mir eine Standpauke verpassen. Die Fahrer scheinen jedenfalls recht zufrieden mit der Balance zu sein", meint Hembery in Melbourne zusammenfassend. "Das liegt sicherlich auch daran, dass die Teams nun mehr Zeit hatten, um ihre Autos um die Reifen herum zu bauen. Insgesamt dürften die einzelnen Fahrzeuge in dieser Saison noch enger beisammen liegen als 2011. Das bedeutet hoffentlich, dass wir eine klasse Saison erleben werden", sagt Hembery. Er selbst sieht sein Unternehmen indes auf einem guten Weg, noch besser zu werden. "Wir haben eine deutlich bessere Ausgangslage als im vergangenen Jahr", erklärt der Motorsport-Direktor des italienischen Reifenlieferanten. "Unser Verständnis ist viel grösser, was zum Beispiel bei solchen Themen wie der Logistik einfach prima ist. Es ist eine sehr komplexe Welt und vieles darin bleibt der Außenwelt verborgen." Die Reifen stehen dagegen ab Sonntag wieder im Zentrum.

Abwechslungsreiche Zeiten für Pirelli


Die Formel-1-Teams bekommen es in dieser Formel-1-Saison mit einigen Neuerungen an der Reifenfront zu tun. Nicht nur liegen die Reifenmischungen nun enger beisammen, es gibt auch einen neuen Intermediate, der angesichts der feuchten Bedingungen schon in der ersten Trainingseinheit der Formel-1-Saison 2012 zum Einsatz kam. Zudem wurde das Reglement dahingehend angepasst, dass die Teams die ihnen je Auto an einem Wochenende zur Verfügung stehenden elf Reifensätze theoretisch schon am Freitag komplett einsetzen können. Sind beide Trainingseinheiten am Freitag als "wet" (nass) deklariert - so geschehen -, können die Teams zudem einen Satz Trockenreifen vom Freitag nehmen und am Samstag zusätzlich verwenden. Ist eine Einheit am Freitag "wet", können die Teams zudem einen zusätzlichen Satz Intermediates neben den normalerweise vier Sätzen Intermediates und drei Sätzen Regenreifen per Rennwochenende und Fahrer verwenden. Am Vormittag fuhr Jenson Button die schnellste Zeit des Tages auf den Medium-Reifen. Bei noch einer verbleibenden Stunde ging Fernando Alonso im Ferrari am Nachmittag als erster Pilot mit Intermediates auf die Strecke. Bei noch weniger als 30 verbleibenden Minuten wechselten die Piloten auf Trockenreifen. Auf ihnen war Michael Schumacher der Schnellste. Insgesamt kamen zwölf Sätze weicher Reifen zum Einsatz, 37 von der Medium-Mischung, 24 Intermediate- rund 18 Regenreifen-Sätze.
"Mit einer sehr grossen Bandbreite an wechselhaften Bedingungen sind wir heute mit allen vier Reifentypen gefahren, welche wir hierher mitgebracht haben", so Paul Hembery von Pirelli. "Die Teams waren in der Lage, wichtige Arbeit im Hinblick auf jene Zeitpunkte zu leisten, an denen der Wechsel erforderlich ist. Es wird erwartet, dass das Wetter für den Rest des Wochenendes trocken bleibt. Es ist aus diesem Grund verständlich, dass sich die meisten Fahrer darauf konzentrierten, im Trockenen zu fahren. Aber da wir nur so wenig Zeit auf der Strecke im Trockenen hatten, werden wir bis zum morgigen Tag kein komplett akkurates Bild der relativen Leistung sehen. Wir haben festgestellt, dass der Medium-Reifen besonders gut zu den heutigen Bedingungen gepasst hat, und dass der Leistungsunterschied zwischen den beiden Mischungen sich beträchtlich reduziert hat. Aber wir haben jede Menge Daten, die wir heute Abend analysieren, bevor wir mit detaillierten Zeiten ankommen können."

Pirelli: Was den Zuschauern verborgen bleibt...


Dass Pirelli bei seiner Rückkehr in die Formel 1 eine derart souveräne Arbeit abliefern würde, hatten nach den Testfahrten 2011 nicht viele Beobachter erwartet. Das italienische Unternehmen schlug sich im vergangenen Jahr aber mehr als beachtlich. Pirelli erfüllte die Erwartungen und wusste trotz des - wie geplant - grossen Reifenverschleisses mit einer ordentlichen Haltbarkeit der Pneus zu überzeugen. Pneuschäden der Plattfüsse seien 2011 nur vereinzelt aufgetreten, betont Pirelli-Motorsport-Direktor Paul Hembery nicht ohne Stolz. Hin und wieder hätten die Reifeningenieure Risse in den Reifen festgestellt, die von Trümmerteilen auf der Strecke verursacht worden waren. "Das gab es ein paar Mal", meint Hembery. "Die Pneus sind aber so entworfen, dass sie einen gewissen Widerstand leisten." Die Verantwortlichen der Formel 1 kämen Reifenlieferant Pirelli jedoch sehr entgegen. "Die Formel 1 ist zum Glück sehr gut organisiert", sagt Hembery. "Die FIA sorgt dafür, dass die Strecken gesäubert werden. Abu Dhabi hat da ein besonderes System." Eine Maschine reinigt die arabische Bahn und sammelt sämtlichen Unrat an, der sich im Lauf eines Events auf dem Yas Marina Circuit ansammelt. "Da kannst du hinterher hingehen und schauen, was alles auf der Strecke herumlag. Das ist ziemlich schockierend", gesteht Hembery und fügt hinzu: "Das kann ich jedem hier nur ans Herz legen, wenn wir wieder in Abu Dhabi sind: Geht hin und schaut euch an, was es dort zu sehen gibt. Man findet Schrauben und dergleichen, die sich von den Autos gelöst haben", erklärt der Pirelli-Reifenchef. "Dann gibt es auch grosse Brocken an Material, wo du dich fragst, woher die nur stammen können. Es finden sich auch noch Karbonteile und Elemente der Verkleidung. Das ist schon sehr beeindruckend", sagt Hembery. "Es ist ein klasse System, auch wenn man einen Schrecken kriegt, wenn man sieht, was es aufsammelt. Wenigstens bist du dann aber nicht mehr überrascht, wenn Probleme auftreten."

"Schumi" gewinnt ein Rennen...


Schafft er es wieder bis ganz nach vorne oder schafft er es nicht? Diese Frage bewegt die Fans von Michael Schumacher schon seit dessen Rückkehr in die Formel 1 zur Saison 2010. Bislang kam der Rekordsieger der Königsklasse dem Podest aber höchstens nahe, nahm seit 2006 aber nicht an der Siegerehrung teil. Pirelli-Motorsport-Direktor Paul Hembery rechnet 2012 jedoch fest mit "Schumi". Der Brite würde sogar Geld darauf verwetten, dass Mercedes-Pilot Schumacher seiner Bilanz in der Formel 1 bald wieder einen Grand-Prix-Sieg hinzufügen kann. Dies habe Hembery seinen Freunden mitgeteilt, die ihn um eine Einschätzung gebeten hatten. "Ich sagte ihnen, dass Michael Schumacher in diesem Jahr ein Rennen gewinnen würde. Damit würdest du zumindest einiges an Geld gewinnen."
Die Quoten für Schumacher stehen nach zwei sieglosen Saisons bei Mercedes bekanntlich nicht allzu gut für den Deutschen, wohl aber für die Zocker. Hembery zeigt sich generell aber vorsichtig, was Prognosen zur neuen Formel-1-Saison betrifft. "Es ist wirklich schwierig zu sagen. Selbst wenn du den Vorzug hast, einen Einblick in die geheimen Daten zu erhalten", meint der Pirelli-Motorsport-Direktor. "Sehr aufregend ist, dass es in diesem Jahr mehrere Fahrer und Teams gibt, die potenziell dazu in der Lage sind, vorne mitzumischen." Hembery muss es wissen, denn Pirelli erhält Einblicke, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben: "Wir kriegen zum Beispiel Informationen über die Benzinmengen. Ich weiss nicht, ob diese Werte stimmen, doch wir vermuten es." Und die Schlussfolgerung daraus: "Kein Kommentar..."

16.3.2012